Wann fangen Kinder mit dem Vergleichen an?
Ich bin schön…er!
„Eine Blume konkurriert nicht mit der Blume neben ihr. Sie blüht einfach.“
Das Sprichwort kommt mir nach der Kinderyoga-Stunde in den Sinn. Thema ist Blume. „Weil Frühling ist und alles blüht“, stellt ein Kind zu Beginn der Stunde fest. Ganz genau. Und ich stelle fest, wie bunt die Kinder gekleidet sind: Aber das liegt wohl nicht am Beginn des Frühlings, sondern einfach in der Natur der Sache… Ich mag das farbenfrohe Durcheinander, die vielen Kinder in ihren bedruckten, bestickten, beglitzerten Shirts, Kleidern und Hosen sehen aus wie eine Wildblumenwiese im Frühsommer.
Besonders fällt mir der selbstgemachte Schmuck eines Mädchens auf: Alle Farben in Perlen, Puscheln oder bunten Knoten. Außergewöhnlich für Mara (nennen wir sie mal so), eine eher schüchterne und zurückhaltende Maus mit „3 ¾“ Jahren, wie sie heute nochmal betont. Ich spreche sie auf ihren schönen Schmuck an und Mara strahlt über das ganze Gesicht. Sie freut sich, ich freu mich und die anderen Kinder freuen sich auch. Ein Mädchen daneben, nennen wir sie Nana – „ich bin schon 4“ überlegt kurz, blickt zu ihrer Nachbarin Mara und sagt: „Ich bin schön…er.“
Über Maras Strahlen zieht eine dunkle Wolke und sie blickt mich traurig an. Moment! Habe ich das gerade richtig gehört? Als Nana ihren Satz begonnen hat „Ich bin schön“, habe ich mich gefreut, dass ein Kind über und mit sich selbst so liebevoll spricht wie es in durchschnittlichen Frauen-Ratgebern als Spiegel-Konversation gepredigt wird. Und dann diese kleine Silbe, diese zwei Buchstaben, die irgendwie alles verändern. ICH BIN SCHÖNER. Wumm, das sitzt wie ein Blitz in einer lauen Sommernacht. Bäm! In your face.
Gedankenblitze jagen in Sekundenschnelle durch meinen Kopf: Lächeln und ignorieren, zustimmen oder diskutieren, drüber hinweggehen und ignorieren – einfach weitermachen mit dem Programm, immerhin haben wir beim Yoga ja eine begrenzte Zeit und noch einige Übungen auf dem mentalen Zettel stehen. „ICH BIN SCHÖNER“, hallt es nach und mir wird bewusst: DAS ist Yoga. Und zwar im Alltag. Im alltäglichen Leben. Wie wir sprechen, miteinander sprechen, umgehen, mit uns und mit den anderen. Was wir sagen, auch wenn es vielleicht nur locker leicht dahingenuschelt wird oder ohne böse Absicht, wie das sicherlich/hoffentlich/vielleicht bei einer 4-Jährigen der Fall ist.
Olright, okay, Vergleichen und Bewerten – so früh geht’s also schon los. Let’s talk about it. „Können wir nicht alle schön sein?“ Fragende Augen. Ich sage: „Du bist schön, Mara.“ Maras Wolke im Gesicht weicht einem Sonnenschein. „Und du, Nana, bist auch schön.“ Sie lächelt etwas unsicher und blickt zu Mara. „Und ihr alle, ihr seid schön. Jede auf ihre ganz eigene Weise. Keine ist schöner als die andere – und genau das ist das Schöne!“ Ich sehe, dass die Kinder überlegen. Es rattert in ihrem Kopf. „Und die Blume, die ist auch schön“, ruft Lina und deutet auf das Kuscheltier in Blumenform in der Kreismitte. Alle stimmen zu und wir beginnen mit den Übungen.
Während des Unterrichtens zwischen „Hilfe, meine Socke klemmt“, „Die Matte ist falsch gerollt“ und „Ich spiele jetzt Meerjungfrau und tanze durch den Raum“ bleibt nicht viel Zeit für Reflektion, doch diese Stunde beschäftigt mich nachhaltig. Ich frage mich, wann das eigentlich anfängt mit dem Vergleichen, Bewerten und dem Aufwerten durch das Abwerten. Sollte es dazu Studien geben, bin ich dankbare Abnehmerin.
Und dann frage ich mich (was sich vielleicht manch eine Person nun denken mag): Muss man solche Themen schon mit 3 ¾ Jährigen besprechen? Ich finde: JA! Denn je eher unsere kleinen Menschen verstehen und (nicht ver-)lernen dürfen, wie wichtig es ist, bei sich zu bleiben, nicht oder möglichst wenig zu (be-)werten und urteilen, desto leichter und schöner können alle Blumen blühen. Denn der Same, den wir in die Erde setzen, wächst zu einer Blume – und wie sie gedeiht, hängt davon ab, womit wir sie gießen.
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